Ein Weg des Abschiedes
Wer Schmetterlinge lachen hört, der weiß, wie Wolken duften.“ (Carlo Karges)
Heute ist es genau eine Woche her, seit sich unser zweites Kind auf ganz natürliche Weise von uns verabschiedet und auf seine eigene Reise gemacht hat. Die Erinnerungen an diesen Tag sind behaftet mit Erleichterung darüber, dass alles seinen natürlichen Weg gegangen ist, Traurigkeit darüber, dass wir unseren kleinen Schmetterling fliegen lassen mussten und Dankbarkeit darüber, dass wir als Familie diesen Weg auf diese Weise gemeinsam gegangen sind.
Die Freude darüber, dass wir „guter Hoffnung waren“, war riesig. Besonders mein Mann hatte ein Funkeln in den Augen und war sofort Feuer und Flamme. Bei unserer Erstgeborenen hatte er damals erst einmal ein kleines Babybäuchlein sehen müssen, um zu begreifen, dass wir Nachwuchs erwarteten. Ich ahnte schon sehr früh, dass ich zum zweiten Mal schwanger war und so haben wir Eltern die Zeit mit unserem süßen Geheimnis sehr genossen. Ich hatte ganz typische Symptome wie beispielsweise Brustspannen und Übelkeit. Es war herrlich, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur ersten Schwangerschaft zu beobachten.
Wie bei unsere Tochter haben wir unsere Eltern in der 7. Schwangerschaftswoche eingeweiht und auch unserer Tochter haben wir verraten, dass sie vielleicht ein kleines Geschwisterchen bekommen würde. Alle haben sich sehr mit uns gefreut. Unsere Kleine hat direkt angefangen, meinen Bauch zu streicheln und zu küssen. Sie war sich sicher, dass sie ihre Schwester schon fühlen könne. Sie hätte am liebsten der ganzen Welt erzählt, dass ihre Mama ein Baby im Bauch hat.
Bei meinem ersten Frauenarztbesuch schien auch dieses Mal alles ganz normal. Der Beta HCG-Wert war sehr hoch und man konnte das kleine Würmchen eindeutig im Ultraschall erkennen. Das Herzlein hat noch nicht geschlagen. Obwohl das bei unserer ersten Tochter damals genau so war, hatte ich direkt ein ungutes Gefühl und habe meine Vorfreude instinktiv gedämpft.
Es begann eine Zeit des Bangens, eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Das Kleine in meinem Bauch hörte auf zu wachsen. Der Beta HCG-Wert ging trotzdem erst weiter hoch, dann runter, dann ist er wieder angestiegen, was uns noch einmal hoffen lies. Es war wohl ein letztes Aufbäumen…
Die Fruchthöhle ist stetig weiter gewachsen, mein Bauchnabel sah schon aus, wie der einer Schwangeren... und trotzdem war irgendwann (ca. ab der 10./ 11. Woche) klar, dass das Kleine nicht bei uns bleiben wird und wir es niemals kennenlernen, in den Armen halten und liebkosen dürfen. Ich war überwältigt von dem Gefühl der Traurigkeit, der Machtlosigkeit. Ich war wütend, weil uns etwas genommen wurde, auf das wir uns von Herzen gefreut hatten. Manchmal war ich sogar zornig, wenn ich sah, wie andere Menschen, mit ihren Kindern – ihrem Glück – umgingen. Unser Baby war so erwünscht und von Herzen willkommen. Warum durften wir es nicht bei uns haben und großwerden sehen? – Auf all diese Fragen, die uns durch den Kopf gingen, gibt es keine Antwort. Mir hilft es, daran zu glauben, dass alles seinen Sinn hat, auch wenn ich diesen noch nicht erkennen, benennen und greifen kann.
Auf jeden Fall hat unser Schmetterling mir gezeigt, dass wir als Familie noch nicht komplett sind. Das war bis dahin noch nicht so klar gewesen. Wir haben immer von dem Wunsch gesprochen, irgendwann mal zwei Kinder haben zu wollen, aber wie stark dieser Wunsch nicht nur bei mir sondern vor allem auch bei meinem Mann ist, war mir bis dahin nicht bewusst.
Im Nachhinein weiß ich, dass wir in dieser traurigen Situation unendliches Glück mit meiner Ärztin und mit unserer Hebamme hatten. Beide haben uns auf unserem persönlichen Weg hervorragend und einfühlsam begleitet, was wohl in Deutschland eher unüblich ist. Meine Frauenärztin hat mir nicht, wie es viele andere Mediziner tun, geraten, direkt zur Ausschabung in ein Krankenhaus zu gehen. Ihrer Meinung nach konnten wir das in unserer Situation auf natürliche Art zu Ende bringen. Zum einen weil mir nichts passieren konnte, wenn man abwartete, und zum anderen weil die Entwicklung des Babys zu diesem Zeitpunkt nicht hundertprozentig klar war. Somit entschieden wir gemeinsam, dass ich wöchentlich kommen und wir das Ganze beobachten würden. Dieser Prozess hat uns geholfen, ganz langsam zu begreifen und Stück für Stück die Situation anzunehmen, wie sie ist.
Irgendwann war klar, dass es für unser Baby keine Hoffnung mehr gibt. Das haben wir natürlich auch unserer Tochter gesagt. Ihre Reaktion war: „Ach schade. Wo geht das Baby denn jetzt hin?“ Wir hatten uns auf diese Frage nicht vorbereitet und haben gemeinsam aus dem Bauch heraus entschieden, ihr zu erklären, dass es einfach weiterfliegt, wie ein kleiner Schmetterling. Die kindliche Schlussfolgerung darauf war: „Dann haben wir nun ein Schmetterlingsbaby!“
Uns war wichtig, dass wir unserer Tochter, die gerade drei Jahre alt geworden war, an unserer Freude und auch an unserm Leid teilhaben lassen. Sie darf wissen, warum wir uns freuen, sie muss aber auch begreifen können, warum wir traurig sind und warum gerade ich so viel weine. Das bedeutet für uns Familie!
Meine Ärztin und meine Hebamme haben mich in dem langen Prozess des Wartens begleitet und unterstützt. Dazu zählten Bluttests, Akupunktur, Eisenkraut-Tee, Senfmehl-Fußbad usw. Die Ärztin und auch ich wurden irgendwann ungeduldig, denn es war, als ob die Fruchthöhle einen „Sitzstreik“ macht. Obwohl das kleine Würmchen im Ultraschall schon nicht mehr zu sehen war, wollte irgendetwas in mir nicht loslassen. Dieser „Schwebezustand“ wurde von Tag zu Tag unerträglicher. Es gab immer mehr unschöne Situationen: (unwissende) Freundinnen, die mir freudestrahlend von ihrer Schwangerschaft berichteten; Sprechstundengehilfinnen, die mich nach meinem Mutterpass fragten und CTG machen wollten; mitleidige Blicke von Wissenden, die nicht verstehen konnten, warum ich mir das so lange „antue“ und es nicht einfach „wegmachen“ lies. Auch die Ärztin riet mir in der 14. Schwangerschaftswoche dann doch in die Tagesklinik zu gehen. Das hat mich ins Wanken gebracht. Ich habe mich vor meinem inneren Auge nie meine Tasche packen und ins Krankenhaus fahren sehen. Ich konnte auch keinen guten Termin im Kalender finden und wollte erst recht nicht geplant krankgeschrieben werden.
Nach einem von vielen sehr ausführlichen Gesprächen mit meiner Hebamme wurde jedoch klar, dass ich mich schon längst entschieden hatte. Ich wollte, dass sich unser Kind ganz natürlich von uns verabschiedet. Es sollte dazu alle Zeit der Welt bekommen, die es dafür braucht. Ich bin davon überzeugt, dass diese Zeit nicht nur das Baby brauchte, sondern auch ich bzw. wir. Abschied für immer zu nehmen ist schwer. Obwohl ich schon vor Wochen einen langen Abschiedsbrief an unser zweites Kind geschrieben hatte und vom Kopf her alles klar war, konnte auch ich noch nicht loslassen. Es war bei mir im Bauch unter meinem Herzen und so nah würde es mir nie wieder sein.
Ich denke, dass solch eine Erfahrung jeden prägt, der so etwas erleben muss – und es passiert so vielen. Dabei ist es egal, wie weit die Schwangerschaft fortgeschritten ist und für welchen Weg man sich entscheidet. Man braucht Zeit, um zu realisieren, zu verarbeiten, zu trauern und seinen Frieden zu finden…
Unsere erste Tochter war damals eine Beckenendlage und somit riet uns fast jeder zu einem geplanten Kaiserschnitt. Auch hier warteten wir, bis sie sich natürlich auf den Weg machte. Leider musste am Ende ein Notkaiserschnitt durchgeführt werden. Ich bin mit der Geburt unserer Tochter versöhnt. Es hat seine Zeit gedauert, aber es ist in Ordnung, schließlich haben wir ein kerngesundes Kind und sehen es Tag für Tag wachsen und gedeihen. Sie bringt so viel Freude in unser Leben und wir sind unendlich dankbar, dass wir sie haben.
Da ich bedingt durch die starke Narkose von der Geburt und der ersten Zeit danach nichts mehr weiß, war es mir nun umso wichtiger, dass mein Körper mir zeigt, dass er das kann. Ich wollte dieses Mal keine Narkose und keine Operation, was immer ein gewisses Risiko birgt. Außerdem wollte ich für eine eventuell weitere Schwangerschaft Vertrauen zu meinem Körper gewinnen, sodass ich nicht von Vornherein mit dem Gedanken behaftet bin, dass mein Körper das sowieso nicht kann.
Irgendwann begann ein ständiges Bauchziehen und später setzen auch Blutungen ein. Es war ein komisches Gefühl, denn wir freuten uns fast darüber, obwohl es normalerweise der Horror einer jeden Schwangerschaft ist. Wir waren aber auf diese Situation durch unserer Hebamme wirklich gut vorbereitet und warteten in gewisser Weise schon sehr lange darauf. Es dauerte weiter drei bis vier Wochen, bis sich unser Schmetterling dann tatsächlich auf den Weg machte. Ich habe mir in dieser Phase mehr Zeit für mich selbst genommen und Dinge gemacht, die mir gut tun. Dabei habe ich dem Baby nicht mehr ganz so viel Raum gegeben, vielleicht um Abstand zu gewinnen, aber vielleicht auch aus Selbstschutz. Ein paar Mal am Tag habe ich ganz bewusst an unser Kind gedacht, mal bei einem schönen Lied, mal beim Tagebuchschreiben. Ich hatte die Idee, dass ich in den Herzanhänger von meiner Omi ein Foto von unserer Tochter und ein Ultraschallbild von unserem zweiten Kind an einer Kette tragen möchte. An diesem Tag hat sich wohl alles in mir gelöst… Ich hatte das Glück, dass ich die Fuchthöhle, in der unser kleines Kind war, auffangen konnte. Obwohl ich bei der Geburt unserer ersten Tochter nicht bei Bewusstsein war, habe ich den Geruch nun sofort wiedererkannt. Gemeinsam im Kreis der Familie haben wir es ans Grab meiner Großeltern gebracht, so können die beiden nun auf unser Kleines aufpassen.
Auch unsere Tochter war dabei und hat drei Holzschmetterlinge mit ins Grab gelegt, als Zeichen dafür, dass wir drei immer bei unserm Baby sein werden. Jetzt haben wir einen Ort, wo wir hingehen, trauern und uns nahe sein können. Wir lassen es los, werden es aber in unserem Herzen behalten und sind für immer miteinander verbunden.
Die Zeit kurz nach diesem Ereignis hat sich sehr unterschiedlich angefühlt. Ich hatte Rückenschmerzen, sehr starke Blutungen und war körperlich unheimlich schlapp. Das kleine Wochenbett hat alle Gefühle mit sich gebracht. Zuerst waren wir unendlich Dankbar, dass alles nun doch seinen natürlichen Weg gegangen ist, aber dann war da auch diese große Leere und Traurigkeit über den Verlust. Unser Kind fehlt uns, obwohl wir nie die Chance hatten, es richtig kennenzulernen. Ich hätte ein so inniges Gefühl der Verbundenheit in dieser kurzen Zeit niemals erwarten.
Wir lassen unseren Schmetterling fliegen und wünschen ihm von Herzen, dass er einen Ort findet, wo er seinen Frieden findet und sich wohl fühlt.